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Mehr erfahren zu Tanz in München! Im TTmag sprechen Tanzschaffende über Ihre Ästhetik und Herangehensweise, werden Tanzformate und Münchner Tanzthemen unter die Lupe genommen!
 

Stephan Herwig
Ein Virtuose der Stille und
der Gemeinschaft



Sabine Leucht: Stephan, eine meiner ersten Begegnung mit deiner Arbeit war "Editorial Bareback" 2013, was ich im Nachhinein als sehr konkrete Produktion empfunden habe. War das eine Ausnahme? Und wenn ja, warum?

Stephan Herwig: Es war thematisch definitiv eine Ausnahme, weil ich da auch politisch konkret geworden bin. Ich denke zwar, dass alle meine Stücke politische Untertöne haben und etwa danach fragen, wie man gesellschaftlich miteinander umgeht. Aber hier wollte ich eine sehr persönliche Geschichte erzählen, auch wenn ich das Wort „erzählen“ nicht so mag.

Das Stück stellte damals die Frage, „are you man enough to be gay?“ Der äußere Anlass war Putins Verbot von „homosexueller Propaganda“ im Juni 2013, mit dem er Schwule per Gesetz zu Freiwild erklärte.

Ja. Und es hatte außerdem mit meiner eigenen Geschichte zu tun. Als Teenager habe ich zufällig Derek Jarmans „Edward II.“ im Sinne von „Ah, so etwas gibt es?“. Der Film erzählt eine homosexuelle Geschichte und hat von daher eine Verbindung
mit meinem privaten Leben. Er hat aber auch meine Auseinandersetzung mit dem Künstlerdasein geprägt. Die Fragen „Wie ist man Künstler?“, „Wie ist man dazu noch schwuler Künstler?“ und „Ist das ein besonderer Blick, den man da hat?“, waren die Ausgangspunkte für dieses Stück.

Hat der Film auch deine Ästhetik geprägt?

Mit Sicherheit. Die Anfangssequenz aus „Editorial Bareback“ ist sehr stark angelehnt an eine Szene aus „Edward II.“ Und ich liebe das Licht in Jarmans Filmen.

Ist es falsch, wenn ich sage, dass deine choreografischen Bemühungen von da ab immer abstrakter wurden?

Ich verstehe, dass viele meine Arbeit als abstrakt bezeichnen, allerdings stelle ich immer Körper auf die Bühne und Menschen - auch ganz bewusst in ihrer jeweiligen Individualität. Und diese menschlichen Körper sind für mich überhaupt nicht abstrakt, sondern im Gegenteil äußerst konkret.

Aber dabei nie auftrumpfend, sondern auf eine gewisse Weise introvertiert. Die Kritikerin Malve Gradinger hat anlässlich von "Schweifen" 2016 von "Tiefenerkun-
dungen des Körpers" geschrieben und vom Versuch, "nach innen“ zu tanzen.


Damit hatte ich eigentlich schon etwa sechs Jahre früher begonnen. Bei meinem Stück "Somewhere" (2010) habe ich mir die Frage gestellt: "Was würde passieren, wenn der Tänzer, der eigentlich dazu trainiert wurde, präsent zu sein, das abstreifen und versuchen würde, gerade nicht präsent zu sein? Also: Sein Körper ist anwesend, aber sein Geist kehrt nach innen. Und spannenderweise ist genau das Gegenteil passiert, nämlich, dass der Körper noch konkreter wurde, noch ausgestellter als er ohnehin schon war. Das war eine sehr gute Erfahrung und im Nachhinein betrachtet auch sehr mutig, weil wir schätzungsweise 70 Prozent des Stückes mit geschlossenen Augen getanzt haben und uns nicht darum gekümmert haben, was das Publikum sieht. Ich glaube, damals habe ich damit angefangen, nach dem Ursprung von Bewegung zu fragen. Die kommt ja erst mal aus einem selbst, wenn sie keine Reaktion auf etwas äußeres ist. Bleibt die Frage: Warum bewegen wir uns überhaupt? Was ist der Drang dahinter?

Ist es die Suche nach diesem Ursprung oder Urgrund der Bewegung, die dich antreibt?


Es ist vor allem eine ganz konkrete Aufgabe in jeder ersten Probe mit den Tänzer:innen, zu entscheiden: Wie fangen wir an? Was gebe ich ihnen mit - als Frage oder als Ausgangsmaterial? Und da lasse ich in der Regel die Tänzer:innen erst mal ziemlich im Dunkeln tapsen und aus sich selbst schöpfen, bevor ich zu konkret sage, was ich machen möchte.

In der Begründung für den Förderpreis Tanz, den du 2018 bekommen hast, wurde dir unter anderem eine ruhige Beharrlichkeit und Treue zu dir selbst bescheinigt. Zu diesem Thema habe ich mir den Trailer von "Alien" aus dem Jahr 2007 angeschaut, das ich nie live gesehen habe, und bilde mir ein, einige verbindende Elemente zu deinem Stück "Rhythm & Silence" (2019) zu entdecken; etwa diese kleinen Rhythmusverschiebungen im Gehen oder die Zartheit, mit der sich Einzelkörper zu etwas Größerem verbinden. Hast du selbst auch das Gefühl, dass bestimmte Elemente in deinen Choreografien beharrlich wiederkehren?

Ich habe selbst nie versucht, eine Handschrift oder ein trademark zu kreieren. Ich überlege für jede nächste Arbeit, woran ich weiterarbeiten möchte und woran nicht. Damit ist jedes Stück vom jeweils vorherigen beeinflusst, wodurch sich auf eine natürliche Art und Weise Ähnlichkeiten herausschälen. Und ich habe Vorlieben. Wenn manche Sachen passieren, mag ich das einfach gerne und kann mir das dann auch sehr lange anschauen.

Was sind das für „Sachen“?


Ich habe zum Beispiel eine Vorliebe für stille Momente, in denen das Publikum Zeit hat, die Tänzer:innen ganz ohne Ablenkung zu betrachten. Ein Ereignis, das in unserem sozialen Miteinander eigentlich nicht erlaubt ist. Wann sitzt oder steht man jemandem gegenüber – egal ob fremd oder bekannt – und betrachtet sich einfach, ohne eine Konversation oder Aktion zu erwarten. Ein reines Betrachtetwerden empfinden wir als unangenehm und irritierend, dabei ist es doch sehr schön, einen Menschen wirklich anzusehen.

Du arbeitest seit 2006 als freier Choreograf und hast
2019 nach einem Jahr Nichtförderung die Drei-Jahres-Förderung der Stadt München bekommen.
Was verändert sich dadurch konkret?


Der Förderpreis kam mitten in einer Zeit der Selbstreflexion und hat mir gezeigt, dass es Leute gibt, die mich und meine Arbeit sehen. Und dann habe ich beschlossen, alles auf eine Karte zu setzen und die Optionsförderung beantragt, was gottseidank geklappt hat. Bei der Einzelprojektförderung ist jedes Projekt schon wieder die Bewerbung für das nächste. Dadurch muss man als Künstler immer auf Nummer sicher gehen. Mit einer dreijährigen Optionsförderung kann ich auch mal riskieren was zu machen, was vielleicht nicht so ankommt, weil ich weiß, die Förderung für nächstes Jahr habe ich trotzdem. Ich kann aber auch viel besser neue und längerfristige Kontakte zu anderen Künstler:innen knüpfen.

Dabei gibt es, gerade, was die Zusammenarbeit mit Tänzern wie Anna Fontanet oder Maxwell McCarthy angeht, bei dir eine sehr große Kontinuität. Was gibt dir diese langfristige Zusammenarbeit?


Je länger man miteinander arbeitet, umso besser kennt man einander, umso mehr traut man sich, tiefer zu gehen und umso weniger versucht man dem anderen zu imponieren. Das weiß ich auch aus meiner eigenen Erfahrung als Tänzer - ich habe ja sehr lange mit Micha Purucker gearbeitet -, dass man auf der einen Seite versucht, dem Choreografen etwas Neues zu geben, auch von sich selbst. Auf der anderen Seite weiß man aber auch, dass man nicht auftischen muss. Der Choreograf hat sich schließlich für einen entschieden, und das schon mehrfach. Dieses Vertrauen ist etwas, was ich sehr schätze. Im Gegenzug bringen neue Tänzer:innen aber auch wieder frischen Wind, neue Perspektiven, Impulse und Ideen.

Du hast ja nicht nur mit Micha Purucker gearbeitet, sondern mit sehr vielen verschiedenen Choreograf:innen von Sabine Glenz bis Xavier Le Roy und Felix Ruckert, an der Bayerischen Staatsoper oder dem Theater Basel. Was bringt dir deine Vergangenheit als Tänzer für deine Arbeit als Choreograf?


Meine Tänzerjahre waren meine Lehrjahre. Ich bin zum Tanzen gekommen, weil ich selbst kreativ sein und nicht nur das Material von anderen umsetzen wollte. Deshalb habe ich in jeder Probe mit Riesenohren gesessen - und wenn die Choreograf:innen mit anderen gearbeitet haben, bin ich trotzdem dageblieben und habe zugehört, wie sie mit Lichtdesigner:innen oder Komponist:innen reden, mit den Tänzer:innen und mit dem Thema umgehen. Das hat mich alles wahnsinnig interessiert, weshalb ich mir auch bewusst sehr unterschiedlichen Choreografinnen und Choreografen gesucht habe, um möglichst das ganze Spektrum zu sehen.

Haben dich eher die Umgangsweisen interessiert als bestimmte Tanzsprachen oder Ästhetiken?


Ich denke, die Kommunikation prägt eine Arbeit wahnsinnig. Auch die Entscheidung für bestimmte Tänzer:innen und inwiefern man sie in den kreativen Prozess und mögliche künstlerische Konflikte einweiht. Sprich: Benutze ich einen Tänzer als Werkzeug oder begegne ich ihm als eigenständigen Künstler, der nicht zwangsläufig das tun muss, was ich ihm sage? Und diese Wertschätzung - nicht nur für den Körper, sondern auch für den Geist und alles andere, was der Tänzer mitbringt – die habe ich erlebt, und so wollte ich arbeiten, sowohl als Tänzer als auch später als Choreograf. Wie eine Tänzerin, ein Tänzer während eines Probenprozesses denkt und fühlt ist doch äußerst relevant und beeinflusst den kreativen Output und somit auch die Ästhetik einer Arbeit auf ganz direkte Weise.

Was muss eine Tänzerin, ein Tänzer haben, damit du mit ihr oder ihm arbeiten willst?


Auf jeden Fall eine gewisse Coolness. Ich mag es, wenn Tänzer:innen auf die Bühne kommen und eine Ausstrahlung haben, aber auch ein sehr großes Selbstverständnis vom eigenen Körper. Da sind wir wieder bei dem Nichts-beweisen-Müssen, aber jederzeit in der Lage dazu zu sein, es zu können, wenn es gefragt wäre.

Wie wichtig ist dir Individualität?


Ich finde es extremst wichtig, dass es keine Beliebigkeit gibt in dem, was Tänzer:innen tun, sondern dass man erkennt: Das ist die Anna, das ist der Maxwell, das bieten sie an und das haben nur sie so anzubieten. Das finde ich auch problematisch an der gegenwärtigen Tanzausbildung, in der alle alles können sollen, was ja erst mal eine tolle Grundvoraussetzung zu sein scheint. Am Ende können und machen aber alle das gleiche.

Du bist ja selbst außer Tänzer und Choreograf auch Tanzlehrer. Interessiert dich Virtuosität überhaupt?


Es kommt auf die Definition an. Wer am höchstens springen kann oder die meisten Pirouetten drehen, hat mich vielleicht in den jungen Jahren als Tänzer interessiert, aber nie als Choreograf. Als Pädagoge ist für mich die größte Herausforderung, jeden Einzelnen in der Klasse zu sehen und das Individuelle auch aus ihm rauszukitzeln, wenn es sein muss. Andererseits denke ich schon, dass die Tänzer in meinen Stücken – gerade in "Rhythm & Silence" – sehr virtuos miteinander umgehen.

Es ist eine spezielle Herwig´sche Virtuosität des Aufeinander-Reagierens. Es gibt in dem Stück meiner Erinnerung nach so viele Beinahe-Kollisionen, dass man fast nicht glaubt, dass es offenbar zu großen Teilen improvisiert ist.


Generell geht es mir immer weniger darum, ob etwas improvisiert oder gesetzt ist, sondern, dass es authentisch im Moment passiert. Und das funktioniert in der Regel am besten, wenn die Tänzer:innen wirklich aufeinander reagieren müssen. Das heißt, sie wissen über ihr Vokabular, ihren Körper und die Beziehung zu den anderen Tänzer:innen Bescheid, aber nicht, was genau im nächsten Moment passiert. Dadurch ist jeder extrem wach und klar und das erzeugt eine Spannung, die ich sehr sehr liebe.

Wie stellst du sicher, dass diese Spannung auch aufs Publikum überspringt?


Puh, wenn ich´s wüsste. Ob das funktioniert, weiß man erst bei der Premiere. Und am nächsten Tag mit einem anderen Publikum kann es wieder komplett anders sein, weil gerade der Tanz diese empathische Ebene hat. Wir haben alle Körper und wir können hoffentlich nachvollziehen, was Tänzer:innen in ihren gerade spüren. Falls nicht, funktioniert es auch mit der Spannung nicht.

Wie wichtig ist in deiner Arbeit der Faktor Zeit?


Welch riesige Rolle für mich die Zeit spielt, habe ich gerade in meinem Stück "Rhythm & Silence" sehr gespürt, wo ihr Verstreichen durch den Verzicht auf Musik sehr deutlich wird.
Ich finde auch spannend, wie unterschiedlich das die Menschen empfinden und warum etwa das Wort „Langeweile“ als negativ beurteilt wird. Es beschreibt ja nur eine lange Weile. Das kann auch etwas sehr Positives sein, sich lange Zeit zu lassen für etwas. Diese Überlegungen sind immer sehr präsent. Diese Abwägung, wie lange ich einem Moment Zeit lasse, sich zu entwickeln und sich zu etablieren, bevor ich etwas anderes anfange.

Wie würdest du deine Beziehung zur Musik beschreiben?


Musik ist mir wahnsinnig wichtig - und genau deswegen habe ich sie allmählich immer mehr reduziert. Musik beeinflusst sehr stark, wie und was man sieht. Man denke nur an einen Horror-Kinofilm. Es ist die Musik, die einen in Angst und Schrecken versetzt, und nicht so sehr das Geschehen auf der Leinwand. Deshalb habe ich versucht zu schauen: Was kann der Tanz alleine, welche Stimmung kann er schaffen, ohne Ablenkung und ohne Verstärker? Das hat mich über die Jahre sehr interessiert und schließlich dazu geführt, dass ich gedacht habe: Weg mit der Musik. Ich will Ruhe haben und ich will, dass der Rhythmus und der Sound von den Tänzer:innen selbst kommen. Für meine nächste Arbeit "In Feldern" habe ich aber einen Komponisten engagiert.

Wird er eine nicht-manipulative und nicht-ablenkende Musik schreiben?


Ich habe in früheren Arbeiten oft Sound eingesetzt als Kontrapunkt zu dem, was man sieht. Wohin die Reise im nächsten Stück geht, weiß ich noch nicht. Es ist auch das erste Mal, dass ich mit einem Komponisten arbeite, und ich habe davor großen Respekt, weil ich weiß: Jeder neue Mitarbeiter ist auch jemand, den man künstlerisch füttern muss. Und das ist nicht so easy.

Was meinst du mit „künstlerisch füttern“?


Es ist eine Person mehr, die Fragen stellt wie „Warum? Wieso? Weshalb?“ Das frage ich mich ja schon selbst jeden Tag. Aber umso mehr Leute das fragen, umso mehr habe ich Angst, dass ich mich selber verliere darin oder nur schnell irgendeine Antwort gebe, um sie zufriedenzustellen. Von daher ist es eine große Herausforderung, Sound war immer etwas, was ich ganz zum Schluss alleine machen konnte und niemandem erklären musste. Ich hatte was im Ohr, das habe ich gesucht und dann draufgeknallt. Jetzt wird es ein Prozess sein, der sicher langwieriger ist, auf den ich mich aber auch sehr freue.


Sabine Leucht führte das Interview im Sommer 2020. Sie ist freie Journalistin
und Tanz- und Theaterkritikerin unter anderem für die „Süddeutsche Zeitung“, die „taz“, „nachtkritik.de“ und „Theater der Zeit".


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