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Mehr erfahren zu Tanz in München! Im TTmag sprechen Tanzschaffende über Ihre Ästhetik und Herangehensweise, werden Tanzformate und Münchner Tanzthemen unter die Lupe genommen!
 

Micha Purucker
Ich mag, wenn es rauscht



Katja Schneider: Micha, wir haben gerade zusammen an der Publikation "Housing the Temporary " gearbeitet, in der es um die eigene Geschichte und um die der Kunstform Tanz geht. Vielleicht habe ich deswegen in deinem letzten Stück "splitter + stream / rhetorics of flesh" (2022) viel gesehen, was dich schon immer beschäftigt hat.

Micha Purucker: Ja, da war ich sogar etwas erschrocken, als ich das bemerkt habe. Das hatte aber nicht so sehr mit dem damaligen Neuanfang im neuen Gebäude des schwere reiter oder unserem Symposium zu tun, sondern viele Sachen sind wieder stärker aufgeflammt, seit ich mich im letzten Sommer für "re.visited – work on mozart" mit einer frühen Arbeit beschäftigte. Das war ein Flashback in die achtziger Jahre, in denen bei mir alles losging.

Wie hast du die 1980er erlebt?

Als ganz großen Aufbruch, sowohl persönlich als auch im zeitgenössischen Tanz, in der Malerei mit den Wilden und in der Musik, die immer sehr wichtig für mich gewesen ist; sie hatte ich mich schon durch die etwas drögen Jahre der BRD gerettet. In den Achtzigern habe ich ja auch erst mit einem ordnungsgemäßem Körpertraining angefangen – also sehr spät! Viele Anforderungen konnte ich nicht erfüllen, was man mir auch gleich gesagt hat: Du bist zu alt, das geht nicht mehr. Aber ich bin mit den Ausläufern von Punk großgeworden, da konnte man viele Sachen machen, auch wenn man sie nicht konnte. Für mich bedeutete das eine Selbstermächtigung. Mir war von Anfang klar, dass ich nicht in dem angebotenen Bewegungskanon – Graham, Cunningham, Nikolais, Horton, klassischer deutscher Ausdruckstanz – operieren will. Ich wollte etwas anderes, wollte mich vom Inpact der Musik tragen lassen. Das erste Stück, das ich noch während der Ausbildung gemacht habe, hieß „I want Water“ und war mit Musik von African Head Charge, einem verschwurbelten Londoner Dub-Ensemble. Da taten sich Räume und Emotionalitäten auf, denen ich mit konventionellem Bewegungsvokabular nicht beikommen konnte, also war klar, dass alles mit einer eigenen Bewegungsrecherche verbunden werden muss. Industrial Music von zum Beispiel Test Dept. war sehr interessant für mich, aus New York ließ ich mir vom New Music Distribution Center Sachen schicken, die man hier nicht bekommen konnte, da bin ich sehr früh mit Glenn Branca, Foetus etc. in Berührung gekommen. Ich fand die Minimal-Strukturen, mit denen ich in der Ausbildung bei Jessica Iwanson in sehr elaborierter Form aufgewachsen bin, in kreischenden Gitarren und Drums wieder. Diesen Outburst wollte ich für mich finden. Die Musik hat mir sehr geholfen, mich in der Bewegung zu verlieren. Es war die Zeit der Raves, in der man sich mit Musik abgeschossen hat. Ich verstehe heute noch Tanz. Tanz, als ein gewisses Sich-Abschießen.

Wie hast du im Studio gearbeitet?

Wir hatten nur kleine Zeitfenster, in denen wir arbeiten konnten, deswegen habe ich sehr viel Material vorgegeben. Das war ein ganz anderes Proben als heute. Es war alles gesetzt, wir haben anfangs alles durchgezählt, was ganz schlimm war … Wir waren damals gar nicht für das trainiert, was wir machen wollten. Man hat Stunden genommen, sich vor den Proben aufgewärmt, dann ging es los. Erst später habe ich mit den Tänzer*innen trainiert, denn die entsprechenden Trainingssysteme gab es noch gar nicht, man musste sie ja erst entwickeln. Es war dieser Aufbruch: Sachen behaupten, Sachen machen, ausprobieren, die einem (noch) nicht zur Verfügung stehen.

Woher kamen die „Sachen“? Mit wem hast du dich ausgetauscht?

Eigentlich nur mit den Tänzer*innen. Meine Referenzen kamen nicht aus dem Theaterbereich und schon gar nicht aus dem Tanzbereich. Film war sehr wichtig für mich, Derek Jarman, Chris Petit, experimentelles Kino generell. Der Eskapismus, den Kino als Kino hat, die andere Poesie, das hat mich interessiert.

Auf das Choreographische übertragen, was suchst du, was ist das Wichtigste, was dein Handwerkliches?

Verkörperung. Ich sehe es als Aufgabe, dass ich mit etwas antrete, was eine Verkörperung ist. Ich möchte nichts illustrieren, keine Musik, auch wenn das gelegentlich mal passierte, weil ich anfangs nicht die Zeit und Erfahrung hatte. Man muss die Leute füttern und mit auf die Reise nehmen; man selbst hat etwas im Kopf, zu dem es keine Referenz gibt, trotzdem muss man andere mitnehmen, schon in der Produktion. Ich weiß, was ich will, aber nicht, wie ich dahin komme. Ich sehe das Handwerkliche darin, physische Zustände und deren Artikulation zu finden, die dem entsprechen, was gesucht wird. Mir hat immer der Satz gefallen: „Dance is a state of excitement“. Das sehe ich auch so, und für diesen körperlichen Zustand muss ich Trigger zu finden, die es erlauben, dass ich die Tänzer*innen dazu verführen kann, diesen Zuständen nachzugehen.

Die Verkörperung macht eine unmittelbare Setzung, eine Setzung in einer spezifischen Situation. Im Hinblick auf deine Arbeit ist mir der Begriff der Situation immer wichtig gewesen, die Rahmungen, die du herstellst, musikalisch, über den Raum, über Objekte. Man betritt eine Art Wunderwelt, und zugleich verwendest du theater-/tanzgeschichtliche Avantgarde-Marker, wie zum Beispiel den Laufsteg in „stimulated identities“ (2000). Daraus entsteht keine Reizüberflutung, jedenfalls für mich nicht, sondern es bewirkt gleichermaßen physische, emotionale und intellektuelle Affizierungen. Wie kommt es zu solchen Gebilden?

Dieses Situative ist für mich absolut wichtig. Ich arbeite im Studio mit Moodboards, um uns Einflüssen auszusetzen, den wir nachgehen. Für mich sind Zuschauer*innen keine Zuschauer*innen, sondern sie sind Beiwohner*innen. Sie verhalten sich ruhiger als wir, aber sie sind mit uns unter einem gemeinsamen Dach, den gleichen Reizen ausgesetzt. Der Laufsteg z.B. referiert auch auf die frühen Reality-TV-Formate. Der ursprüngliche Titel des betreffenden Stücks sollte lauten „stimulated identities, simulated identites“, da man über die Medien ganz banal zu einem permanenten Schaulaufen verführt wird. Wenn ich diesen Marker, den Laufsteg, habe, dann hat das Effekte für das Bewegungsmaterial, für unterschiedliche Zuschauerperspektiven, dann müssen hier physische Lösungen gefunden werden, damit sich das komplettiert.

Dein Werkliste verzeichnet beinahe 80 Choreographien und Produktionen, die du seit 1986 gezeigt hast. Siehst du deine Entwicklung geradlinig oder gab es wesentliche Brüche?

Ich sehe keinen Bruch. Den ersten Film, „Failed Ascension“ (1986), habe ich gemacht, weil ich mir ein Szenario vorgestellt hatte, für das ich keinen Bühnenraum finden konnte, also sind wir rausgegangen in Industriebrachen und haben gefilmt. Das war damals etwa die Situation ‚Industriebrache‘. Der ‚mentale‘ und reale Raum, in dem eine Choreographie sich entwickelt, der ändert sich zwar bei jeder Arbeit. Aber eine Raumvorstellung, eine Atmosphäre brauchte ich immer schon und für alle Stücke. Was allerdings einen großen Unterschied macht: Arbeitet man in der Gruppe oder für kleine Formate. Dafür braucht man total unterschiedliches Handwerkszeug.

Kannst du das beschreiben?

Ab fünf oder sechs Tänzer*innen beginnt man, Muster zu gucken, und das ergibt ein anderes Arbeiten, als wenn man an einzelnen Menschen dranbleibt. Es sind unterschiedliche Vorgehensweisen, die sich auch ästhetisch auswirken. Man kann in den kleinen Formaten mehr ausprobieren und sich fokussieren; man muss auch überlegen, welche Hinweise gebe ich dem Publikum, wie etwas anzusehen ist. Das Muster-Gucken bei großen Produktionen ist kulturell eingeübt; gerade im Tanz, das ist sehr toll, ich mache es selbst sehr gerne, aber es ist auch heikel, denn Muster sehen meist sehr gut aus, oft zu gut. Dann wird der Tanz oft zu glatt, zu schön. Es kommt dann darauf an, dem gegenzuarbeiten, damit es nicht nur ‚visual porn‘ wird.

Machst du ‚visual porn‘?

Noja, ich kann das schon auch! Die Stücke, die ich in Korea gemacht habe, denn da braucht es ‚visual porn‘, und ich mochte das sehr. Wenn wir Stücke von Korea hierher übernommen haben, dann ging es immer darum, wie kriegt man den ‚porn‘ raus? Ich wollte die zweite Ebene, die es hier haben könnte, betonen, aber das war schon in den 1980er Jahren schwierig, mit Ironie zu tanzen.

Ist dir das wichtig, mit Ironie zu tanzen?

Bei manchen Sachen schon. Den Korea-porn fand ich schon auch ironisch. Für die Koreaner war es das nicht unbedingt. Eine laute, elaborierte Visualität, das ist in Korea sehr zeitgenössisch und omnipräsent. Auch die Verschränkung mit popkulturellem Back-up. Wir haben z. B. zu Giorgio Moroder und Rammstein gearbeitet, das war eigentlich reinster Camp – glatter, aber doppelter Boden ohne Zynismus.

Wie kam es, dass du Anfang der 1990er Jahre nach Korea gegangen bist und über Jahre immer wieder dort gearbeitet hast?

Eine Graham-Lehrerin bei Iwanson, Mina Yoo, begrüßte mich nach einer Aufführung von „Darwin Waltzes“ (1988) und fragte, ob ich ein Duett für sie und mich machen würde. Das hat geklappt, und als sie später an der ersten staatlichen Uni für Kunst in Korea (damals: Korean National University of Arts ) das Tanzdepartment aufbaute, lud sie mich für ein Jahr zum Unterrichten ein. Das hat sich dann verstetigt, so dass ich letztlich vier Jahre dort war, auch an anderen Unis, und auch die Laboratory Dance Projects, LPD Seoul mitbegründete. Es gibt dort phantastische Tänzer*innen und Korea hat eine immer noch starke schamanistische Tradition: das Außer-sich-Sein zu können und zu wollen ist für meine Arbeit sehr gut. Es gab große Klassen mit sehr guten Leuten, die alle ähnlich trainiert sind und dadurch sehr homogen sein können, wenn man das will. Ich mag es schon, wenn es zwischendurch rauschen kann, Synchronität die Bühne flutet, Muster flirren etc. Und kein Geheimnis ist ja auch, dass es in Deutschland immer schwieriger wurde, große Stücke zu produzieren, zu touren, wieder aufzunehmen.

Warum hast du dort aufgehört?

Die letzte Produktion, "murmurs + splotches" (2015), die ich für die Kompanie LDP gemacht habe, gefiel ihnen nicht. Die Physikalität, mit der ich angefangen hatte, ist in deren Bewegungsrepertoire eingeflossen. Das wird weitergereicht, man sieht dann Epigonen. Die Tänzer*innen können alles reproduzieren und übererfüllen, was geht. Sie wollten zum Jubiläum einen Neustart, den habe ich choreographiert. Aber es war eine neue Stimme. Es war sehr streckenweise sehr reduziert, an anderer Stelle hat es geknattert – ich glaube, das war ihnen zu radikal anders. Das ist merkwürdig, weil die traditionellen Sachen ja sehr reduziert sein können.

Ob in den Gruppenstücken, den kleinen Formaten, ob in deinen Filmen oder Installationen, deine Arbeiten durchzieht, wie ich finde, ein existentielles Alleinsein.

Das höre ich sehr oft. Man ist ja auch letztlich alleine. Das sehe ich schon so. Als wir viel mit Kontaktimprovisation gearbeitet haben wie in „Unrest – a Garden“ (1995), dann nie so, dass sich die Leute wirklich dauerhaft finden oder stützen. Alles ist nur temporär und prekär. Es gab zwei Pole, Astronauten im Weltall und Taucher im Wasser, dazwischen sind wir. Der Taucher ist locked-up, der Astronaut ist locked-up, dazwischen sind wir mit Antennen füreinander, aber alleine auf der Welt und in unserer Haut. Physisch ist das ein Fakt. Das ist aber gar nicht tragisch. Es gab den Moment, in dem sie sich im Stück die Hand gegeben haben; das war sehr laut und sehr optimistisch. Aber Liebe und Partnerschaft spreche ich in meiner Arbeit direkt nie an. Dazu gibt es genug andere Arbeiten, Songs und Romane. Meine Tänzer*innen haben ja auch keine Rollenprofile oder so.

Wir haben das Gespräch mit dem Blick auf die eigene Geschichte begonnen. Du hast dich auch mit "archival beach" (2015), einer performativen Installation, mit deinem Werk und dem, was davon bleibt, beschäftigt. Ist das ein notwendiger Schritt gewesen?

Ich habe mich lange nicht darum gekümmert, das kam erst, als die Optionsförderung der Stadt München auslief. Ich wollte meine Sachen noch einmal ansehen, zusammenkehren und auch auskehren, ausmisten. Als Filter interessierte mich eigentlich das Statement in all seinen unterschiedlichen Ausformulierungen, das zu geben man über die Jahre versucht hat.

Die Verkörperung, die Ziel deiner Arbeit ist?

Körper sein. Man redet jetzt viel mehr über Tanz, als man das früher tat; für mich war aber die Sprachlosigkeit, dieses Nicht-Sprechen im Tanz immer ein großes Argument für den Tanz, weil es die Dinge offener lässt. Aber obwohl man heute viel mehr spricht, werden manche Sachen nicht gefragt. Zum Beispiel warum ein Choreograph, eine Choreographin, choreographiert und nicht malt? Mit welchen Körperbildern operieren die Kolleg*innen. Es wird viel über die Stücke gesprochen, aber es gibt eine Sprachlosigkeit hinsichtlich der Motivationen. Darum habe ich die Reihe "STANDPUNKT.e" mitgegründet, um Kolleg*innen einzuladen und zu thematisieren: Woher beziehst du deine Sachen, was ist dein Hintergrund? Wo kommt was her? Auch im Hinblick auf die Rezeption ist noch viel zu tun. Tanz ist flüchtig – über was spricht man, wenn man über Tanz spricht? Was sieht man, wenn man Tanz sieht? Was sind das für Prozesse und wie laufen sie ab?

In Gesprächen erwähntest du immer wieder Uexküll, Lassnig, Bacon, Debord …

Tanz als Tanz, das ist das, was ich probiere, das ist mit einem bestimmten Menschenbild verbunden, einer bestimmten philosophischen Idee vom In-der-Welt-sein. Tanz als Tanz geht durchaus tief und ist nicht so unschuldig und nur-hübsch, wie das oft kolportiert wird. Es gibt Referenzen: für mich sind das Leute wie Pasolini, Fassbinder, Jarman, die französischen Philosophen und viele andere, mit denen ich großgeworden bin. Und natürlich William S. Burroughs. Sein Statement „We try to make ourself less stable“ ist in allen möglichen Bedeutungsfacetten eigentlich mein Arbeitsmotto. Die Stabilität ist prekär und nur für kurze Dauer, aber etwas anderes haben wir nicht. Eigentlich taumelt man ja. Mein Tanz ist eigentlich ein Taumeln.


Katja Schneider führte das Interview im März 2022. Sie ist promovierte Literaturwissenschaftlerin und habilitierte Theaterwissenschaftlerin mit dem Schwerpunkt Tanzwissenschaft und Performance Art und lehrt derzeit als Professorin für Tanzwissenschaft an der HfMDK in Frankfurt/Main. Als freiberufliche Kritikerin und Redakteurin war die u. a. für die Süddeutsche Zeitung, den Deutschlandfunk, tanzjournal und tanz tätig und seit ist sie 2015 Dramaturgin des Festivals DANCE München.


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