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Gespräche zu Formaten
Micha Purucker über STANDPUNKT.e – welcome to my world



Die Reihe STANDPUNKT.e ist 2009 für den Spielort schwere reiter entstanden. Was war der Impuls, der Gedanke bei diesem Format?

Erstmal war das schwere reiter ein neuer Raum, den gab es ja erst seit 2008, und als Tanztendenz wollten wir dafür spezifische Formate entwickeln, die unsere Herangehensweise an Tanz in gewisser Weise abbilden. Formate, die außerhalb der üblichen Erwägungen von Tanzprogrammationen stehen und mehr auf Prozesshaftigkeit und Methoden setzen. Das ist – denke ich – das, was man generell im schwere reiter für den Tanz hochhalten muss: Wir sollten nicht alles so machen, wie alle anderen, sondern eine eigene Qualität entwickeln.

So sind dann das Internationale Choreografenatelier, side.kicks und eben STANDPUNKT.e entstanden?

Genau, und bei STANDPUNKT.e war die Überlegung, dass wir eine Reihe machen wollten, wo Choreograf:innen auf andere Art ihre Arbeit vorstellen – nicht durch eine Performance, sondern durch das Ausleuchten des Hintergrunds, der Inspirationsquellen. Quasi wirklich die Subtexte und die Nährstoffe, die hinter oder in den Stücken stecken. Die Sachen, die man halt so nicht mitkriegt als Publikum. Es sind letztlich die Parameter, aus denen sich die Bühnenarbeiten entwickeln. Dieselben Parameter, die man als Choreograf:in braucht, wenn man anfängt mit den Leuten zu proben. Du hast ja keinen Stücktext, keine Komposition, die jetzt alle erst mal lesen können, Du musst aber trotzdem die Beteiligten mit auf die Reise nehmen, Referenzen schaffen. Und diese Wegmarken oder Parameter sind ja zum Beispiel interessant, weil die sehe ich ja auf der Bühne unter Umständen nicht, sondern da sehe ich ja dann: Wo sind sie angekommen, in welchem Territorium? Aber die Wegmarken sehe ich zumeist nicht, ich sehe nicht, wie kommt man dahin?

Wenn Du sagst Subtexte, fällt mir sofort etwas ein wie Einflüsse aus Bildender Kunst, einen Text oder Film, der etwas angestoßen hat oder Musik …

Tatsächlich kommt der Untertitel zur Reihe aus einem Song. Ich hab mal ein Stück am Flughafen Riem gemacht und Robert Merzo suchte einen Song raus, der hieß „Welcome to my world“ und ich dachte: Das ist eigentlich genau das, was mir beim Sprechen über Tanz so fehlt. Es ist nicht dieses Einzelprojekt allein, was du gerade jetzt siehst, sondern es ist ein ganzer Kosmos hintendran. Das ist wichtig für den Tanz: Klar machen, dass die Stücke, die Autoren nicht im luftleeren Raum schweben, sondern genauso verankert sind wie Malerei, Musik, Literatur. Woher kommt das Movens? Welche Meinungen haben die? Aus welcher Alltagswirklichkeit, aus welchen Auseinandersetzungen kommen diese Arbeiten? Wie tickt z. B. Forsythe außerhalb der Bühne? Was beschäftigt ihn, wo steht er politisch, wie sieht er den Kunstbetrieb etc. Im Vergleich zu anderen Kunstsparten wissen wir wenig, selbst von den großen Namen im Tanz. Tänzer:innen und Choreograf:innen gelten anscheinend als irgendwie aus der Welt gefallen, als ‚lunatics‘, als Eskapisten, die machen halt ihr Zeug in einem Turm aus Elfenbein, sind nicht von dieser Welt. Und so herrscht eine große Stummheit um die Stücke, aber auch um die Leute, die sie machen.

Und diese Stummheit versucht STANDPUNKT:e zu durchbrechen?

So kann man das sehen. Aber wenn man über Tanz spricht, ist das immer irgendwie schwierig, ungenügend, weil Sprache einfach anders funktioniert als Tanz; man ist sofort in einem grundsätzliche anderen Kommunikationsmodell. Deshalb der Gedanke ein Format zu entwickeln, das sowohl choreografische Autorenschaft, werkbiographische Inhalte als auch den anderen Kommunikationsmodus von Tanz berücksichtigt, indem es eben anders über die entsprechenden Arbeiten ‚spricht‘. Indem Interessen, Vorlieben, die Vektoren einer Arbeit, einer Methode etc. in einer öffentlichen Situation zusammengetragen und inszeniert werden – von den Betroffenen. Choreograf:innen werden eigentlich nicht als Autor:innen mit einer Agenda verstanden. Sie haben aber alle eine persönliche ‚Flugbahn‘, die sehr schwer – bis gar nicht – an Einzelproduktionen zu erkennen ist. STANDPUNKT.e ist ein Versuch diese ‚Flugbahn‘ aufzuzeigen, anhand der von den eingeladenen Künstler:innen selbst bestimmten Koordinaten.

Wie muss man sich das vorstellen?

Das Konzept ist eine Carte blanche für die Gestaltung zweier Abende, d.h. die Choreograf:innen können de facto fast alles machen, was Sie wollen, sofern sie meinen, es handelt sich um Beiträge aus ihrem Kosmos. Es gibt vorab mehrere Gespräche zum Konzept der Reihe: Es ist keine Vorstellung, so wie sie es sonst gewöhnt sind; es geht nicht darum, routiniert ein Stück zu zeigen – auch wenn sie gerne Tänzer:innen mitbringen und Ausschnitte zeigen können. Aber sie sollen schon raus aus ihrer Routine. Riccardo Iazetta hat z.B. 2012 seinen Friseur mitgebracht, man konnte sich die Haare schneiden lassen und sein kleiner Sohn krabbelte über die Bühne – ein total verrückter und anrührender Abend. Jeremy Wade kam mit seiner Band, Charles Linehan hat u.a. seine Familienalben gezeigt. Bei Viktoria Hauke wurde zusammen gekocht und gegessen, Cristina Caprioli hat das Publikum unter einem Tuch tanzen lassen. Es ist wirklich eine andere Art von Abend, es geht um die Welt hinter dem Werk und dessen Autor:in.

Funktioniert das auch, wenn man als Zuschauer:in das Werk gar nicht kennt, nichts gesehen hat?

Klar ist es schön, wenn man schon etwas gesehen hat, dann kann man nochmal andere Sachen entdecken. Auch deshalb zeigen manche der Eingeladenen Live-Ausschnitte oder arbeiten mit Videos. Thomas Hauert, der 2022 bei STANDPUNKT.e war, hat zwei Tänzerinnen seiner Company mitgenommen und Arbeisweisen und Ausschnitte gezeigt und auch installativ mit Video gearbeitet. Ob ein Abend aber funktioniert, ist abhängig davon, mit welchen Dingen die Künstler:innen kommen und wie sehr der Abend auf einen direkten Abgleich mit dem Werk spekuliert; oder ob sie eben andere Wege in ihre Welt wählen. Paulo Emílio Azevedo, der 2015 bei STANDPUNKT.e war – das war ein unglaublich toller Abend, egal, ob Du das Oeuvre jetzt kennst oder nicht. Da kreiste alles sehr um Gemeinschaft, um das Zusammen-Sein, um eine Großzügigkeit mit allen Anwesenden. Da wurde auch am Schluss zusammen getanzt. Im Vordergrund stand: Wir machen das jetzt gemeinsam und wir machen uns jetzt einen guten Moment.

Ist das eine zwingende Facette bei STANDPUNKT:e, das das Publikum einbezogen wird oder mitmacht?

Gar nicht, das ist ganz abhängig von den Choreograf:innen, die den Abend gestalten. Wir hatten auch Gäste, die im Vorfeld zu den öffentlichen Abenden Workshops gemacht haben; Pat Graney zum Beispiel hat mit geflüchteten Mädchen gearbeitet und deren Fotoarbeiten wurden Bestandteil ihrer Abende oder Cristina Caprioli war in einem Münchner Seniorenstift und hat mit den Bewohner:innen ein Bewegungstraining gemacht. Pierre Droulers wiederrum hat mit Münchner Tänzer:innen im Vorfeld gearbeitet, mit ihnen die Abende gestaltet – da wurde u.a. Tischtennis gespielt. Die Künstler:innen reagieren auf STANDPUNKT.e mit dem, was sie letztlich teilen wollen und müssen sich da schon einen Kopf machen. Wenn sie das Konzept der Reihe wirklich ernst nehmen, gehen sie ein Risiko ein.

Wie meinst Du das?

Da es ja eine Einladung ist, sich anders als über eine Vorstellung zu artikulieren, kannst du nichts Bekanntes aus der Schublade ziehen, kannst nicht deine üblichen Sachen abrufen. Du musst dich rausnehmen aus dem, was du sonst machst, und Lust haben wirklich was Neues auszuprobieren – und das ist risikoreich. Wir nennen uns ja frei – freie Tanzszene – aber die Frage ist doch, inwieweit erfüllen wir nicht dauernd irgendwelche Erwartungen, die der Betrieb an uns stellt und sind ganz schön formatiert entsprechend der Bedürfnisse dieses Apparats. Auch das hinterfragt für mich ein Format wie STANDPUNKT.e. Es stellt eine Anti-Routine her – für die Künstler:innen, aber auch für das Publikum, für die Presse, für Förderer … der ganze Betrieb muss das aushalten, dass bis kurz vorher meist nicht klar ist, was passiert da genau an diesem Abend, denn das ist das Konzept.

Ist für Dich STANDPUNKT.e auch ein Vermittlungsformat?

Das war nicht die Idee dahinter und ich würde es auch nicht drüberschreiben, aber ich glaube, dass es das leistet auf eine ziemlich smarte Art. Es eröffnet Zugänge zur Choreografie generell. Schon dadurch, dass man sieht: Ach was, das sind ja auch Menschen dieser Welt, allein schon durch diese Zeitgenossenschaft. Auch das ist ja eine Frage, die die Reihe an Künstler:innen stellt: Worin sehen sie ihre Zeitgenossenschaft? Standpunkt meint halt auch was – eben: Wo stehst Du?



Mehr zu den vorhergehenden Ausgaben von STANDPUNKT.e: STANDPUNKT.e

Das Interview führte Simone Lutz, April 2022


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