|
> zurück
Mehr erfahren zu Tanz in München! Im TTmag sprechen Tanzschaffende über Ihre Ästhetik und Herangehensweise, werden Tanzformate und Münchner Tanzthemen unter die Lupe genommen!
|
|
Orchids // Teaser from Léonard Engel on Vimeo. Gespräche zu Stücken Léonard Engel: Orchids
Léonard, in deinem Stück "Orchids" geht es um die Suche nach einer neuen Männlichkeit abseits patriarchaler Erwartungen. Mit welchen Vorstellungen von Männlichkeit bist du aufgewachsen?
Ein Mann in einem patriarchalischen System zu sein, bedeutet, einer bestimmten Vorstellung davon zu entsprechen, was Männer sein und tun dürfen. Die männliche Identität ist auf der Vorstellung aufgebaut, dass ein Mann in erster Linie keine Frau ist. Es ist eine Identität, die negativ besetzt ist: Ein Mann sollte keine Gefühle zeigen, nicht die Kontrolle verlieren, nicht um Hilfe bitten, sich nicht um seinen Körper kümmern... Jedes Verhalten, das davon abweicht, gilt als weiblich und damit als beschämend. Es ist nicht unbedingt etwas, das uns von unseren Eltern direkt beigebracht wird, aber dieses Konzept von Männlichkeit wird in den Köpfen von Jungs verankert, sobald sie in der Schule mit sozialen Kontakten beginnen.
In „Orchids“ interessiert mich besonders, wie sich dies auf die männlichen Emotionen und damit auch auf den männlichen Körper auswirkt, denn für mich sind diese beiden Dinge miteinander verwoben. Emotionen sind keine abstrakten Empfindungen, sie sind direkt in unseren Körper eingebettet. In dem Stück lassen die Darsteller ihre Bewegungen von ihren sich ständig entwickelnden Emotionen leiten. So entsteht ein Raum, der nicht von Geometrie, sondern von Gefühlen, Empfindungen und Empathie bestimmt wird.
Abgesehen von der gesellschaftlichen Konstruktion von Männlichkeit, befasst sich "Orchids" auch mit der Frage der Zurschaustellung von Körpern in der Darstellenden Kunst; also mit der Art und Weise, wie stereotype Vorstellungen männliche Darsteller auf der Bühne beeinflussen. Ist man als darstellender Mann – aus deinen eigenen Erfahrungen heraus und aus denen der Proben zu "Orchids" – in diesem Kontext gefangen?
Ich denke, dass es für eine*n Künstler*in wirklich schwer ist, die Bühnenpersönlichkeit vollständig von dem sozialen Kontext zu trennen, in dem sie oder er aufgewachsen ist. Indem der männliche Tänzer eine Bühne betritt und seinen Körper den Blicken des Publikums aussetzt, unterläuft er bereits die Geschlechternorm, denn er nimmt eine Rolle ein, die normalerweise Frauen zugewiesen wird. Er läuft Gefahr, objektiviert zu werden, was der patriarchalischen Vorstellung von einem aktiven und beherrschten Mann völlig zuwiderläuft. Um diese Objektivierung zu vermeiden, entwickeln männliche Tänzer mehr oder weniger bewusst Möglichkeiten, den Blick des Publikums zu kontrollieren oder abzuwehren. Dies kann durch reine Technik geschehen, bei der der männliche Körper eher als Werkzeug für Leistung und Exzellenz, denn als Objekt der Begierde gesehen wird, oder durch den Einsatz von Humor oder extremen Aktionen, um das Publikum zu gewinnen oder abzuwehren. Es kann aber auch noch subtiler sein, wie z. B. die Wahl einer bestimmten Richtung, in der man sich in Bezug auf das Publikum aufstellt, oder das Versinken in einen tranceartigen Zustand, in dem das Publikum nicht mehr einbezogen wird. Diese Mittel entsprechen einem ganz natürlichen Bedürfnis nach Schutz vor den Blicken. Sie sind wie Mauern, die die Darsteller zwischen sich und dem Publikum errichten, um auftreten zu können. Ein großer Teil der Arbeit, die die Performer (Tian Rotteveel, Mikael Marklund, Rupert Enticknap) und ich bei "Orchids" geleistet haben, bestand darin, diese Mauern zu identifizieren und sie methodisch zu zerstören, um zu sehen, was mit dem Körper passiert, wenn er nach und nach mehr und mehr entblößt wird.
In diesem Zusammenhang finde ich auch die Frage interessant, dass in einem patriarchalischen System der Tanz und die Countertenor-Stimme wahrscheinlich ohnehin als weiblich, wenn nicht gar abwertend als "weibisch" angesehen werden würden.
Ich glaube, jeder Junge, der zu meiner Zeit (und wahrscheinlich auch heute noch) mit dem Tanzen (insbesondere mit dem Ballett) anfing, sah sich in der Schule einem enormen Gegenwind ausgesetzt. Das hängt direkt mit der tief verwurzelten Vorstellung zusammen, dass der männliche Körper und die männliche Stimme (im Falle eines Countertenors) nicht dazu gemacht sind, begehrenswert zu sein. Nur Frauen sollen begehrenswert sein. Ein Mann, der Begehrlichkeiten weckt, wird als verdächtig wahrgenommen: verweichlicht, vielleicht sogar schwul. Es gibt eine große verinnerlichte Homophobie bei Männern. Selbst wenn sie bewusst kein Problem mit Homosexualität haben, ist die Angst, als schwul wahrgenommen zu werden, immer noch präsent.
In "Orchids" arbeitest du mit einer sehr heterogenen Besetzung, wobei der Countertenor Rupert Enticknaps besonders hervorsticht. Wie hast du choreografisch mit jemandem gearbeitet, der keinen tänzerischen Hintergrund hat, oder wie kombinierst du die individuellen Fähigkeiten der Darsteller zu einem Ganzen?
Als ich Rupert kennenlernte, hatte er gerade begonnen, sich von der Welt der klassischen Oper wegzubewegen und sich einer alternativen Aufführungsszene zuzuwenden. Ein ähnlicher Werdegang wie bei mir, denn ich habe meine Karriere mit dem Ballett begonnen. Seitdem war er sehr damit beschäftigt, seinen Körper auf unterschiedliche Weise einzusetzen, er war also nicht völlig neu in der Welt des Tanzes, als wir mit den Proben begannen. Ich glaube, das Stück funktioniert gerade deshalb, weil die drei Darsteller so unterschiedlich sind und verschiedene Fähigkeiten und Stärken mitbringen. Aber auch, weil die drei sich bereit erklärt haben, sich in diesem Prozess immer wieder selbst zu gefährden. Ich bin wirklich beeindruckt und dankbar für die Arbeit, die sie geleistet haben.
Wenn man auf deine bisherigen Arbeiten zurückblickt, ist ein großes Thema das (unmögliche) Verschwinden des Körpers, das du einmal für erwachsenes Publikum und einmal für Kinder bearbeitet hast - in „Orchids“ hingegen scheint der Körper fast überrepräsentiert zu sein...
Der Schwerpunkt meiner Arbeit war immer der Körper. Den Versuch, meinen Körper verschwinden zu lassen, habe ich genutzt, um ein neues Verständnis für ihn zu entwickeln. Ich komme vom Ballett und habe immer gesagt, dass ich meinen Körper kenne. Was ich damit meinte, war, dass ich wusste, wie man ihn kontrolliert, aber ich hatte keine Ahnung, was mein Körper tun kann, geschweige denn, was er tun will. Als ich anfing, in der freien Szene zu choreografieren, begann ich mich für die unkontrollierbaren Aspekte des Körpers zu interessieren: das Zittern, die Geräusche, die Emotionen, die direkt in unserer Anatomie verankert sind. Was in meiner frühen Arbeit als fast unbewusste Forschung begann, ist in „Orchids“ eindeutig zum Hauptthema geworden: ein Körper, der dazu da ist, dem Publikum einen sich ständig weiterentwickelnden emotionalen Raum zu offenbaren, der selbst dadurch beeinflusst wird, dass er seinen Blicken ausgesetzt ist.
Ausgesetzt wird der Körper auch in seiner Nacktheit.
Die Nacktheit in "Orchids" entspringt meinem Interesse, einen männlichen Körper zu zeigen, der nackt und sinnlich sein kann, ohne sexuell zu sein. Dies ist eine Antwort auf die homophobe patriarchalische Vorstellung, dass Intimität zwischen Männern nur mit Homosexualität gleichzusetzen ist. Die Darsteller des Stücks kommen einander sehr nahe, sowohl körperlich als auch emotional. Dennoch ist die Sexualität auf der Bühne nie ein Thema, und wir haben sehr schnell vergessen, dass sie tatsächlich nackt sind, weil es keine Rolle spielt. Sie entwickeln einen Raum, der direkt aus ihren Emotionen heraus entsteht und in dem sie sich viel mehr entblößen, als wenn sie nackt sind. Wenn sie schließlich die von Magdalena Emmerig entworfenen Kostüme anziehen, verdecken diese ihren Körper nicht, sondern verstärken ihn, als physische Erweiterung dieses emotionalen Raums.
Auch eines deiner wiederkehrenden Themen ist deine Faszination für die Tierwelt und ihre Strategien; Mimikry/Paarungsrituale usw. In der Tierwelt sind Männchen in der Regel diejenigen mit dem schönen ‚Schmuck‘. Beim Menschen hingegen wird der Schmuck, das Make-up, das Funkeln und Glitzern meist der Frau zugeschrieben – auch damit spielst du in "Orchids".
"Pavane" (2019), mein erstes Solo, das ich leider nicht in München zeigen konnte, wurde direkt von den Paarungsritualen verschiedener Tierarten inspiriert. Ursprünglich wollte ich mich mit der Idee von Kunst und Tanz aus einem nicht-anthropozentrischen Blickwinkel heraus beschäftigen. Als das Stück fertig war, wurde mir klar, dass ich die ganze Zeit über ein Stück über Männlichkeit gemacht hatte. Ich sehe „Orchids“ als eine Weiterentwicklung von Pavane, da viele der Ideen, die ich in der ersten Arbeit zu erforschen begann, in diesem neuen Stück viel deutlicher werden. Und obwohl die Performer nicht direkt tierische Paarungsrituale zitieren, wie ich es in "Pavane" getan habe, tauchen einige dieser Bezüge durch den Prozess der Improvisation auf sehr überraschende Weise wieder auf.
"Orchids" ist ein Stück, das sich explizit mit dem Thema Cis-Männer + ‚neue‘ Männlichkeit beschäftigt, welche auch Intimität, Zärtlichkeit, Schönheit, Sanftheit und Zweifel umfasst. Du hast bei den Proben auch mit der nicht-binären Drag-Performerin Olympia Bukkakis zusammengearbeitet.
Ein cis-heterosexueller Mann könnte sein ganzes Leben lang leben, ohne die patriarchalischen Werte, auf denen seine Persönlichkeit aufgebaut ist, überdenken zu müssen, da es keine direkte Notwendigkeit dafür gibt. Queere und transsexuelle Menschen haben diese Möglichkeit nicht und werden schon sehr früh vor eine (Nicht-)Wahl gestellt: sich den patriarchalischen Erwartungen anzupassen und ihren Platz als Mann in unserer Gesellschaft zu behalten oder sozialen Selbstmord zu begehen, um so zu sein, wie sie sind. Ich war daran interessiert, mit Olympia als Außenstehender zu arbeiten, nicht nur, weil sie von dieser Situation direkt betroffen ist (eine Nicht-Wahl, die sie als Chance bezeichnet), sondern auch wegen ihres Wissens über Gender Studies und Performance im Allgemeinen. Sie ist eine wunderbare Stimme im Studio, und ihre Anmerkungen und Vorschläge waren bei der Entwicklung des Stücks sehr hilfreich.
„Orchids” findet am 19. + 20. Januar, jeweils um 20.00 Uhr und am 21. Januar um 18.00 Uhr im schwere reiter statt: >INFO
Mehr zu Léonard Engel: Website
Das Interview führte Simone Lutz, Januar 2024
Tanztendenz München e.V. wird gefördert durch das Kulturreferat der LH München
|
|
|
|